Prozesserklärung im Bußgeldverfahren am 12. April 2023

Wir dokumentieren hier die Prozesserklärung der Beschuldigten, die wegen einer Ordnungswidrigkeit am 12. April am Amtsgericht erscheinen musste. Ermittlungsausschuss Dresden.


Ich beginne mit einem Ausschnitt aus dem Buch „Vom Hindukusch bis Buchenwald – Suhrabs Flucht und das Ende der Menschenrechte in Europa“ von Tine Rahel Völcker

…’Man soll Unvergleichliches nicht vergleichen wollen‘, begann der Schriftsteller und Überlebende von Buchenwald und Auschwitz Ivan Ivanji anlässlich des Jahrestags der Befreiung des KZ Buchenwald im April 2016 seinen Gegenwartsbezug, um dann zu erklären, weshalb er in der Folge genau das tun werde, ‚Unvergleichliches vergleichen‘:

‚Denn es geht wieder um Millionen. Wir sehen Bilder von einem Stacheldraht der Moderne, der gefährlicher wirkt als derjenige, der die Konzentrationslager umgeben hat. Die Stacheln sind schärfer geworden. Mit elektrischem Strom sind sie nicht geladen. Ich verscheuche die schreckliche Frage: Noch nicht?‘

Es ist kein Zufall, das er den Stacheldraht als Vergleichsgröße heranzieht. Tatsächlich manifestiert sich am Stacheldraht wie an kaum einem anderen Objekt der Charakter des gewaltsamen Ein- und Ausschlusses. Er ist, wie der französische Soziologe Oliver Razac in seiner Studie Politische Geschichte des Stacheldrahts zeigt, gleichermaßen Symbol und effizientes Instrument zur räumlichen Festlegung von Machtbeziehungen. Der Stacheldraht vollzieht die Trennung ‚zwischen dem, was leben, und dem, was sterben kann oder soll.‘ Er ’schafft einen Unterschied zwischen den einen, die noch Menschen, und den anderen, die nur noch Körper sind.‘

Ivan Ivanji sagt, man sollte das nicht tun, unvergleichliches vergleichen, und macht es dann selbst. Die Not von Millionen auf der Flucht, das schreiende Unrecht an Europas Außengrenzen gibt ihm die Erlaubnis, sich über dieses Verbot hinwegzusetzen, wenn er weiter ausführt: ‚Ich denke an unvergleichliche Tragödien. Ein Kind aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak klammert sich vertrauensvoll an seine Eltern und besteigt mit ihnen ein Boot. Genauso vertrauensvoll Hand in Hand mit seinen Eltern ist ein jüdisches Kind in Auschwitz in die Gaskammer gegangen. (…) Nicht auf die Zahlen kommt es an – wie viele? Wo genau? Weshalb? Wann? Bitte keine Statistik, sondern Trauer für ein jedes tote Kind.‘

Als Überlebender des Holocaust sieht er sich in der Pflicht, gegenwärtiges Unrecht nicht schweigend hinzunehmen. Sein Eingangssatz weist auf die Schwierigkeit des Vergleichs insbesondere mit dem Holocaust hin, um dann klarzumachen, worum es ihm geht: rückhaltlose Empathie mit den Opfern, damals wie heute. …

In der Broschüre „no more morias – Lesbos und die europäische Abschottungspolitik“ vom dunya collective und dem Sächsichen Flüchtlingsrat ist zu lesen: „Es ist schwer Orte wie Moria politisch und philosophisch zu erfassen oder zu durchdringen. Orte wie diese dürften nicht bestehen. Ihre Existenz setzt massive Rechtsbrüche im internationalen und nationalen Recht voraus.“

Es gab eine Studie von Psycholog*innen und Jurist*innen mit 160 Geflüchteten aus dem Lager. Sie klassifizierten Moria als einen Ort der Folter. Zitat „ Zeitgenössische Folter zeigt sich nicht immer in äußeren Narben und körperlichen Spuren. Sie zeigt sich durch ein gewaltsames Brechen der Persönlichkeit und Identität, verursacht durch die Unterwerfung unter Bedingungen der Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit, durch ein Gefühl des absoluten Verlustes der Kontrolle über das eigene Leben, allgegenwärtig, in den kleinsten Details des Alltagsleben.“

Gerald Knaus der Vorsitzende des Think Tank European Stability Initiative und Architekt des EU- Türkei- Deals vom 18.3. 2016 sagte in einem Interview mit dem DLF über die Situation der Geflüchteten auf Lesbos : „Diese schlechten Bedingungen sind gewollt. Das ist eine Politik der Abschreckung. Die Menschen sind Statisten in einem Abschreckungsdrama.“

Am 8./9.9. 2020 brannte Moria, das größte europäische Flüchtlingslager, besser Freiluftgefängnis ab.

Der Brand war der legitime Ausdruck von Verzweiflung, ein Versuch Würde wieder zu erlangen.

Am 14.9. 2020 dem Tag der Solidaritätsaktion mit den Geflüchteten und des gleichzeitigen Protestes gegen dieses europäische Morden und Foltern an allen Außengrenzen der EU stimmte im Sächsischen Landtag eine Mehrheit aus CDU, SPD und Grünen gegen die Aufnahme von gerade mal 500 Menschen aus Moria. Herzlichen Glückwunsch an die Marktschreier*innen von Menschenrechte, Demokratie, Friede Freude Eierkuchen.

Politik ist ein schmutziges Geschäft, das lediglich für das lebensfeindliche System Kapitalismus buckelt.

Laut dem „Statista Research Departement“ sind allein im Mittelmeer seit 2014 26.141 Menschen umgekommen. (Stand 16.3.23)

An Europas Außengrenzen wird entrechtet, gedemütigt, gefoltert, gemordet.
Und während Seehofer sich an seinem 69. Geburtstag über 69 abgeschobene Afghanen freut, während Von der Leyen griechischen Grenzwächter*innen für die erfolgreichen Pushbacks gratuliert soll ich wohl eine Ordnungswidrigkeit begangen haben. Na sowas! Wie kann ich nur! Ihr könnt mich mal!

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