ein Gespräch über Corona, Politik und Wirtschaft mit einem Genossen aus Belarus

Während in der Europäischen Union Regierungen und Medien daran arbeiten, Maßnahmen gegen das Virus einzuführen und Menschen sich um Klopapier streiten, kümmern sich immer weniger Menschen um den Rest der Welt, zum Beispiel um die Krise an der griechischen Grenze oder die Situation in anderen Ländern. Zeit für uns die Perspektive zu wechseln und für ein Gespräch mit Genoss:innen aus Belarus über Aktivismus, Corona und die Wirtschaft!

EA: Wer bist du und was macht du? Was ist deine politische Agenda und mit welchen Themen beschäftigst du dich?

Hallo, ich bin Anarchist und arbeite in einer Druckkooperative in Minsk. Für mich ist die Kooperative Teil meines täglichen Aktivismus. Außerdem mache ich noch bei einem Umsonstladen-Kollektiv mit. 

Was passiert gerade in Belarus abseits der Verbreitung von Corona? Soweit wir wissen, gab es eine größere Bewegung gegen ein Steuergesetz in den letzten Jahren?

Die Anti-Steuer-Bewegung ist jetzt drei Jahre her. Ich denke, solche Proteste, ich meine wirklich große Proteste, kommen in Belarus nur einmal in fünf oder acht Jahren vor. Die Leute haben einfach nicht genug Kraft, um bei sowas immer mitzumachen, denke ich. In diesem Jahr steht eine Präsidentschaftswahl an, im Sommer. Gerade sehe ich nicht, dass die Menschen hier die Kraft haben gegen Wahlbetrug auf die Straße zu gehen.

Am Anfang des Jahres gab es eine riesen Diskussion, um die Einheit von Russland und Belarus. Diese Frage ist schon sehr alt, wird seit 20 Jahren von den Regierungen diskutiert. Aber dieses Jahr war das aufjedenfall ein Höhepunkt. Die belarusische Wirtschaft ist abhängig von russischem Gas und Öl. Russland hat aber für beides die Preise angezogen. Die Bedingung war dann, dass wenn Belarus Öl zu niedrigeren Preise kaufen wolle, es Teil Russlands werden sollte. Für den hiesigen Präsidenten war das natürlich eine schlechte Idee, er würde all seine Macht und Befugnisse auf einen Schlag verlieren. Insgesamt sieht es für mich so aus, dass wir wirklich massive wirtschaftliche Probleme haben vor den Wahlen. 

Die oben angesprochenen Proteste richteten sich gegen eine die Einführung einer Steuer auf Arbeitslosigkeit, mehr dazu beispielsweise unter: https://www.hrw.org/news/2017/04/03/belarus-freedom-day-crackdown | https://www.rferl.org/a/belarus-amnesty-human-rights-protests-crackdown/28367341.html | https://abcdd.org/2017/03/27/english-hundreds-protesters-detained-after-massive-wave-of-repressions-in-belarus/

In Deutschland drehen gerade alle ziemlich durch, aufgrund der Verbreitung des Corona Virus. Geschäfte werden geschlossen, Menschen ins „Home Office“ geschickt und alle werden aufgerufen mindestens die nächsten zwei Wochen zu Hause zu bleiben, wahrscheinlich werden die Maßnahmen aber die nächsten Monate andauern. Wie ist die Situation in Belarus?

Bisher sagt die Regierung, dass alles unter Kontrolle sei und nichts Schlechtes passieren wird, da nur ein kleiner Teil der Menschen hier krank sei. Das sagte sie zu einem Zeitpunkt, als rund herum alle Länder ihre Grenzen schlossen. Ich denke das hat mit der ökonomischen Lage und den Wahlen zu tun. Lukashenko will zeigen, dass er alles unter Kontrolle hat, während alle anderen ringsherum in Panik geraten. Und vor allem müsste die Regierung, wenn sie offiziell sagt, das es ein Problem gibt und Quarantänemaßnahmen ergriffen werden müssten, Fabriken schließen und Geschäfte unterstützen. Das wäre eine riesige Aufgabe für die Wirtschaft und alles könnte zusammenbrechen unmittelbar vor den Wahlen. Aus meiner Sicht ist die ökonomische Situation hier vor Ort der wohl der wichtigste Grund, warum die Regierung  nichts tun wird.

Wir haben gehört, in Belarus gab es in den 90ern auch schon regelmäßig Schulschließungen und so weiter wegen Influenzaviren. Kannst du uns mehr erzählen über das belarusische Gesundheitssystems?

Das Gesundheitssystem hier ist kostenlos für alle Bürger:innen. Es ist nicht notwendig eine Krankenversicherung zu haben, um im Krankenhaus behandelt zu werden. Das ist auf der einen Seite gut. Aber auf der anderen Seite gibt es diesen riesigen bürokratischen Apparat, wie bei allen Regierungsinstitutionen. In denen bekommen alle Menschen nicht genug Lohn, vergleicht man den mit Gehältern in privaten Schulen oder Krankenhäusern. Darum begegnest du in öffentlichen Einrichtungen immer einer großen Welle an Gleichgültigkeit und die Behandlung ist nicht sehr gut. Leute mit Geld bevorzugen dann private Kliniken bei denen sie nicht ewig anstehen müssen. So wie ich den ersten Teil der Frage zu den Schulschließungen verstanden habe, war es nicht. Das war nicht im ganzen Land und vor allem eben auch nicht wegen einer unbekannten Krankheit. Aber ja es war normal, das Schulen für ein paar Wochen geschlossen wurden. Aber eben nicht für das gesamte Leben. 

Gab es Versuche von Arbeiter:innen im Gesundheitswesen sich zu organisieren oder Selbstorganisationen? 

Davon weiß ich nichts.

Im Iran können wir sehen, wie ein ganzes politisches System scheitert bei der Virusbekämpfung. Viele Menschen sagen, dass das auch an der restriktiven Informationspolitik läge. An manchen Orten gab es auch Demonstrationen vor Supermärkten und Krankenhäusern. Denkst du, es gibt eine Chance auf einen politischen Wandel von Regimen deren Gesundheitspolitik fehl schlägt? 

Ich denke, es wäre eine gute Chance in Belarus das politische System zu ändern. Auf der einen Seite sind viele Bedingungen für so einen Wandel erfüllt: Die schlechte ökonomische Situation, Wahlen an die die Leute nicht glauben in diesem Jahr, das Beispiel der Ukraine, dass es möglich ist etwas zu verändern, wenn wir wollen und bereit sind zu kämpfen. Die Leute hier sehen auch keine Perspektive im Land und wir haben die erfolgreiche Erfahrung von den Antisteuerprotesten. Aber der Hauptgrund ist wirklich die wirtschaftliche Situation.

In Deutschland wurden Ersatzfreiheitsstrafen weitgehend ausgesetzt. Inhaftierte klagen über die mangelnde Versorgung mit medizinischer Hilfe. Kannst du was zur Situation in den Knästen bei euch sagen?

Soweit ich weiß gibt es in manchen Gefängnissen Quarantänemaßnahmen und Besuchsverbote. Die Gefängnisleitungen erlaubten außerdem zusätzliche Versorgungspakete mit 10 Kilogramm mit Früchten, Gemüse und Vitaminen.

Volkswagen schloss am Freitag die Produktion in Deutschland. Was denkst du werden die Auswirkungen auf die belarussische Wirtschaft sein?

Die Wirtschaft hängt fast vollständig von Russland und den Steuern auf Privatgeschäfte ab. Zum ersten Mal versucht die Regierung vor den Wahlen jetzt Geld zu bekommen, egal woher. Wir leben die ganze Zeit in einer Krise. Die Krise wird vielleicht nicht so ein Schock werden,  wie wenn man normalerweise ohne ökonomische Probleme lebt. Die meisten Geschäfte und Firmen werden so lange versuchen zu arbeiten, wie möglich und es gibt auch keine Gesetze die Massenevents limitieren, die Schulen sind offen. Die meisten NGOs, auch Orte und Läden haben entschieden sich freiwillig selbst zu isolieren.

Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für dich und deine Genoss:innen!