Gedächtnisprotokolle

Es gibt viele verschiedene Situationen, in denen es sinnvoll sein kann, die Geschehnisse vor Ort in einem Gedächtnisprotokoll festzuhalten. Generalisierend betrifft das alle Situationen, bei denen du mit von dir nicht gewollten Aktionen konfrontiert wirst, die von außenstehenden Personen oder Organisationen (z.B. Nazis, Cops) durchgezogen werden.

Zumeist treten solche Situationen bei Demos und sonstigen Großveranstaltungen auf. Dazu zählen beispielsweise Festnahmen / Gewahrsamnahmen, Übergriffe von Cops oder Nazis mit und ohne Verletzungen. Aber auch, wenn du der Meinung bist, in einer bestimmten Situation von den Ereignissen überfahren zu werden, kann ein Gedächtnisprotokoll sinnvoll sein, um dich ggf. nachträglich dagegen zur Wehr zu setzen. Dazu zählen beispielsweise Hausdurchsuchungen oder Kesselsituationen bei Demos. Auch Anquatschversuche durch den Verfassungsschutz solltest du aufschreiben.

Sinnvoll ist das Schreiben von Gedächtnisprotokollen deshalb, weil so bei eventuell folgenden Prozessen, die oft erst nach langer Zeit stattfinden, relativ authentische Situationsbeschreibungen vorhanden sind, die für das Erstellen einer Verteidigungs-/ Prozessstrategie von Nutzen sein können.

Oft ist es so, dass erst Wochen oder auch Monate nach einer Aktion Post von den Repressionsorganen ins Haus flattert, auf die ggf. reagiert werden muss. Dies funktioniert ohne Frage besser, wenn die Fakten nicht all zu verschwommen und möglichst ohne Lücken griffbereit sind. Um sicherzustellen, dass die Erinnerungen noch frisch sind, ist es dabei sinnvoll, das Gedächtnisprotokoll innerhalb von 24 h nach dem Vorfall zu verfassen.

Nutzen, Verwendung und Risiken von Gedächtnisprotokollen

1)      Als Beschuldigte_r

Im klassischen Fall hilft dir das Gedächtnisprotokoll, um dich gegen erhobene Vorwürfe zur Wehr zu setzen. Wenn du also wegen eines bestimmten Vorwurfes von Seiten der Repressionsorgane mit einem Ermittlungsverfahren überzogen wirst, dann hast du mit einem Gedächtnisprotokoll die Erinnerungen daran auch Monate später noch frisch parat. Zusammen mit deiner Anwält_in kannst du auf dieser Basis optimal an einer Gegenstrategie feilen. Von Alleingängen (ohne Anwält_in) raten wir aber dringend ab! Die Inhalte eines Gedächtnisprotokolls können u.U. auch gegen dich (oder andere Aktivist_innen) verwendet werden – das gilt vor allem, wenn es nicht „sauber“ geschrieben ist und in die falschen Hände gerät (dazu später mehr). Komme auf jeden Fall vorher zur Beratung zu unseren Sprechzeiten!

2)      Als Zeug_in

Jenseits vom „klassischen Fall“ kann ein Gedächtnisprotokoll aber auch in solchen Fällen nützlich sein, bei denen gar nicht gegen dich ermittelt wird: Möglicherweise hast du ja z.B. einen Übergriff als Außenstehene_r beobachtet? Dann schreib deine Beobachtungen auf und stelle das Protokoll dem*der Betroffenen (falls bekannt) oder dem Ermittlungsausschuss zur Verfügung. In diesem Fall kannst du als potenzielle Zeug_in für die Anwält_innen von anderen Betroffenen nützlich sein. Achte dabei aber sehr genau auf sichere Verwahrung des Protokolls (z.B. nicht unverschlüsselt per Mail versenden)! Wenn das Protokoll in die falschen Hände geraten sollte, könnten auch die Strafverfolgungsbehörden an dir als Zeug_in interessiert sein. In diesem Fall kann es schwierig werden, sich auf ein Zeugnisverweigerungsrecht zu berufen (dafür müsstest du mit dem/der Beschuldigten verwandt, verlobt oder verheiratet sein) um die Aussage legal verweigern zu können.

Falls du nicht in einen möglicherweise anstehenden Prozess hineingezogen werden möchtest, kannst du das gegenüber den Betroffenen und / oder dem EA äußern. Reflektiert politisch handelnde Menschen werden diesen Wunsch respektieren und entsprechend deine Beobachtungen nicht in eine Gerichtsverhandlung einführen. Es sollte klar sein, dass du vor einem solchen Schritt nach deiner Bereitschaft dazu gefragt werden musst. (Ausnahme: Du wirst von der Staatsanwält_in als Zeug_in geladen, weil das Protokoll in die falschen Hände geriet und belastende Aussagen darin enthalten sind.)

3)      Als Betroffene_r

Oft besteht bei Betroffenen von Repressionsmaßnahmen auch der Wunsch, gegen Übergriffe etc. vorgehen zu wollen (z.B. prügelnde Cops, Einkesseln von Demos, Hausdurchsuchungen mit Verwüstungen, die Liste ist lang…). Auch dafür sind Gedächtnisprotokolle durchaus gut zu gebrauchen. In diesem Fall gilt jedoch noch viel mehr als bei den oben beschriebenen Fällen: Auf keinen Fall im Alleingang und ausschließlich nach gründlicher Vorbereitung mit dem EA und/oder einer vertrauenswürdigen Anwält_in! Die Risiken sowohl von Gegenanzeigen als auch von Gefährdungen Dritter durch getroffene Aussagen (die ja bei eigenen Anzeigen gemacht werden müssen) sind real und nicht zu unterschätzen! Prinzipiell raten wir deshalb i.d.R. von eigenen Klagen ab. Da jeder Einzelfall aber anders gelagert sein kann, ist das mit dem Klageweg verbundene Risiko allerdings nicht allgemein zu bewerten. Dazu können wir dir vertrauenswürdige Anwält_innen vermitteln. Jenseits der juristischen Bewertung der Erfolgsaussichten und Risiken wünschen wir uns aber auch eine Auseinandersetzung mit der politischen Dimension des Vorgehens: Geht es dir vordergründig um „Rache“ oder kannst du langfristig eine reale Aussicht auf Veränderung von unhaltbaren Zuständen erkennen? Immerhin bedienst du dich derselben Mittel des „Rechtsstaates“, die so oft gegen uns eingesetzt werden. Ob du eine Klage anstrebst, ist jedoch letztendlich deine eigene Entscheidung, die von uns respektiert wird. Wenn dir aber jemand vorbehaltlos und ohne intensive Abwägung zu einem solchen Schritt rät, bist du definitiv ohne politisches Gespür (also schlecht) beraten!

Inhalt eines Gedächtnisprotokolls

Vorab: Ein Gedächtnisprotokoll darf weder dich noch Andere belasten – dieser Punkt hat absolute Priorität vor allen anderen Aspekten! Außerdem enthält das Protokoll ausschließlich Fakten. Vermutungen und Emotionen haben hier wirklich gar nichts zu suchen. Vielmehr soll ein solches Protokoll eine möglichst sachliche und detaillierte Beschreibung der Vorgänge beinhalten. Dabei kann es prinzipiell sehr schwierig werden, ein Ereignis angemessen, ausführlich und möglichst präzise zu beschreiben, ohne dabei sich selbst, andere Aktivist_innen oder solidarische Dritte zu belasten. Unter Umständen ist es auch gar nicht möglich. Hier beginnen die Tücken der Praxis. Genaue, abgewogene und unmissverständliche Formulierungen sind gefragt. Im Zweifelsfall sind einzelne Aspekte wegzulassen anstatt sie zu beschönigen. Dabei hilft es, sich beim Verfassen in die Gegenseite hineinzuversetzen: Welche Inhalte könnte ein_e Staatsanwält_in für seine/ihre Zwecke nutzen? – solche Inhalte umformulieren oder ganz streichen!

Im Folgenden einige exemplarische Tipps mit sicherlich idealisierten Beispielen:

Am Anfang sollte der Name des/der Verfasser_in, das Datum und die Uhrzeit des Ereignisses und der genaue Ort des Geschehens (Straße, Kreuzung, Ampel etc.) stehen. Dann sollte das Beobachtete so genau wie möglich beschrieben werden. Also:

  • Was ist passiert? (z.B.: „Mindestens drei Cops aus der ersten Reihe sprühten mit Pfefferspray in die Menge der Demonstrant_innen und zwar gezielt auf Kopfhöhe.“)
  • Wer wurde verletzt? (z.B.: „Mir haben sofort die Augen gebrannt.“)
  • Wer wurde festgenommen? (z.B. „Ich wurde durch zwei nicht gekennzeichnete Bullen in blauer Uniform zu Boden gestoßen und mit Kabelbinder gefesselt.“)
  • In diesem Sinne weiter, bis die Situation in ihrer Gänze beschrieben ist (weitere ggf. festzuhaltende Stichpunkte findest du hier).

Dabei kann es auch sinnvoll sein, die Situation vor dem Ereignis zu schildern und eine persönliche Lageeinschätzung abzugeben: Ob es ruhig war, ob die Cops schon die ganze Zeit provoziert haben, ob es ein enges Spalier oder Auseinandersetzungen gab… (z.B. „Vor dem Pfeffereinsatz war die Demo völlig entspannt.“)

Zur allgemeinen Personenbeschreibung von unbekannten Handelnden („Angreifer_innen“) gehören neben dem zugeschriebenen Geschlecht und der ungefähren Größe auch das mutmaßliche Alter, Haarfarbe und -länge, Klamotten, Tatoos sowie unter Umständen Körperbau bzw. allgemeines Aussehen. Weiterhin solltest du auf Auffälligkeiten achten – ausgefallene Frisuren oder Klamotten, Narben, Verbände – eben alles, womit die Person aus einer Masse, die den Übergriff ausgeführt hat herausgefiltert werden kann. Auch bei Cops bieten sich trotz der Uniformierung mehrere Möglichkeiten Unterschiede festzustellen: Neben der Nummer der jeweiligen Einheit finden sich auch schon einmal Markierungen auf Uniformen oder Helmen, verschiedene Knüppel oder auch unterschiedliche Handschuhe in derselben Einheit. Auch Besonderheiten wie ein fehlender Helm, ein „verzierter“ Knüppel oder ein auffälliger Dialekt sollten mit ins Gedächtnisprotokoll, ermöglichen sie doch u.U. eine nachträgliche Identifizierung.

Wir weisen darauf hin, dass auch Nebensächlichkeiten wichtig sein können. So ist es z.B. sinnvoll, darauf einzugehen, ob es geregnet, geschneit oder gehagelt hat oder ob die Sonne schien. Klar ist auch, dass in der Abenddämmerung nicht so viel erkennbar ist, wie bei hellem Tageslicht oder bei guter Beleuchtung. So konnte mithilfe solcher Details bei Verfahren auch schon der ein oder andere Cop unglaubwürdig gemacht werden. Sehr hilfreich sind auch Skizzen von Übergriffen. Wenn du soetwas hinzufügen kannst, freut sich jede Rechtshilfegruppe.

Was in einem Gedächtnisprotokoll in keinem Fall etwas zu suchen hat, sind strafbare Handlungen von dir oder anderen Aktivist*innen (z.B. „Ich habe mich gegen die Festnahme gewehrt und der vermummte Typ hat laut ihr ‚Arschlöcher‘ gerufen.“). Auch Beschreibungen von Aktionen, die mit dem eigentlichen Übergriff an sich nichts zu tun haben, gehören nicht in das Protokoll. (z.B. „Während ich gefesselt wurde, sah ich, wie einige Demonstrant*innen Schotter aus dem Gleisbett entfernten.“) Abgesehen davon, dass dies ein unnötiges Preisgeben von Informationen wäre, die selbst eine Rechtshilfe nichts angehen – und die sie auch gar nicht wissen will – stellt dies eindeutig eine Gefährdung von Leuten und Strukturen dar.

Ganz wichtig ist auch, nichts zu beschönigen oder schlimmer darzustellen, um eventuell Vorteile für die Opfer von Übergriffen herausholen zu wollen. Dies kann nämlich ganz schnell nach hinten losgehen und gegen dich verwendet werden. Zum Beispiel, wenn dein_e Anwält_in von falschen Tatsachen ausgeht und dann im Gerichtsverfahren böse Überraschungen erlebt. Zweifelhafte (belastende) Inhalte also weglassen und nicht umdichten!

Weiterhin: Ein Gedächtnisprotokoll enthält ausschließlich die Namen der Verfasser_innen und der Menschen, die den Cops in diesem Zusammenhang sowieso bekannt wurden. Es ist Aufgabe aller Beteiligten (also Verfasser_in, Rechtshilfegruppe, ggf. Anwält_in) dafür zu sorgen, dass diese Namen nicht in falsche Hände geraten! Wer sonst noch an der Demo teilgenommen hat, hat im Protokoll nichts zu suchen – schon gar nicht mit Klarnamen. Genannt werden können und sollten aber die Namen von Cops oder Neonazis, die entweder zufällig gefallen sind oder auf Anfrage herausgegeben wurden.

Außerdem: Heldentaten haben in Gedächtnisprotokollen nichts zu suchen! Verzichte darauf, glorreiche Geschichten zu erzählen (weder deine eigenen noch die von anderen Handelnden), denn damit belastest und gefährdest du dich und andere!

Wohin mit dem Gedächtnisprotokoll?

Am besten aufgehoben sind Gedächtnisprotokolle bei der EA-Gruppe. Wir bewahren die Gedächtnisprotokolle an sicheren Orten auf und geben sie auch nur in Absprache mit dir an Anwält*innen weiter. Eben durch die Zusammenarbeit mit Anwält*innen, aber auch dadurch, dass bestimmte Situationen oder Ereignisse vom EA beleuchtet und ausgewertet werden, wird das Gedächtnisprotokoll hier sinnvoll genutzt. Außerdem können wir oftmals erst durch das Sammeln der Protokolle eine Verbindung zu verschiedenen Betroffenen von Übergriffen herstellen, falls das gewünscht ist.

Findest du in der Umgebung deines Wohnortes keine Rechtshilfegruppe, solltest du das Gedächtnisprotokoll direkt zu eine_r Anwält_in deines Vertrauens geben. Sofern du es zur Not bei dir zu Hause aufbewahren musst, speichere es am Besten auf deinem verschlüsselten Computer und versieh es immer mit dem Vermerk „Für meine_n Verteidiger_in“. Damit ist der Inhalt für die Cops tabu. Falls sie es dennoch lesen/beschlagnahmen sollten (wozu sie kein Recht haben), darf zumindest der Inhalt des Protokolls vor Gericht nicht verwendet werden. Falls du es (aus welchen Gründen auch immer) doch in Papierform bei dir zu Hause deponieren musst oder willst, dann bewahre es in einem zugeklebten Briefumschlag mit der Aufschrift „Für meine_n Verteidiger_in“ auf.

Und denk daran: Ein Gedächtnisprotokoll darf niemals per Post, gefaxt oder unverschlüsselt per E-Mail geschickt werden. Gib es am besten persönlich bei einer Kontaktadresse ab. Bei der Vernichtung von Gedächtnisprotokollen – auch den Entwürfen oder Kopien -, die nicht mehr gebraucht werden, darauf achten, dass sie nicht einfach so im Altpapier landen, sondern geschreddert o.ä. werden.

Was sonst noch zu beachten ist

Es ist immer besser, Gedächtnisprotokolle abzutippen, da sie durchaus noch mal gelesen werden müssen. Für die Gruppen, die Gedächtnisprotokolle erhalten, sollte klar sein, dass sie damit verantwortungsbewusst umgehen müssen. Also: An einem sicheren Ort aufheben, sie nicht ohne Absprache mit ggf. weiteren Betroffenen an Anwält_innen weitergeben und sie in keinem Fall für Polizei und Justizbehörden zugänglich machen.

Alles in allem sind Gedächtnisprotokolle eine Möglichkeit, unsere Ausgangsposition in einem nachfolgenden Verfahren zu verbessern. Deshalb: RAFF DICH AUF!


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